Caspar David in Greifswald
Zart stehen die Birken im Nebel bei Greifswald
Fotografiert und geschrieben für die Edition Kurzreisen 2024, ganze Story hier.
Ein leichter Nebel schwebt über den Wiesen bei Greifswald. In der Ferne traben braune Pferde träge über ihre Weide, in den kahlen Bäumen krächzen die Krähen, die kühle Luft legt sich um mich wie ein Mantel. Als vor über 200 Jahren der auch damals schon bekannte Maler Caspar David Friedrich auf dieser Wiese stand und in dieselbe Richtung blickte, in die auch ich heute schaue, war die Welt eine sehr andere. Und doch kommt es mir so vor, als wäre der Blick kein so anderer, als könne ich nachempfinden, was der große Romantiker damals wohl fühlte, als er die kühle Morgenluft auf den Wiesen bei Greifswald eingeatmet und die Inspiration für eines seiner bekanntesten Werke empfangen hat.
“Ein Bild muss nicht erfunden, sondern empfunden sein.” soll Caspar David Friedrich einst gesagt haben. Mit meiner Kamera in der Hand habe ich nicht die Absicht, ein Bild zu erfinden, aber empfinden kann ich es sicher. Es ist eine besondere Atmosphäre hier zu stehen, die Ruhe, die Weite des Blicks, der Nebel, der sich noch immer in den Birken verfängt. Dann brettert ein Auto auf dem Weg hinter mir vorbei und ich seufze. Solche Störungen musste Caspar David Friedrich sicherlich nicht über sich ergehen lassen. Der große Maler wurde 1774, vor genau 250 Jahren also, in Greifswald geboren und dieses Jubiläum nimmt die Hansestadt zum Anlass, das ganze Jahr über ausgiebig zu feiern und den Geist der Romantik wieder heraufzubeschwören. Aber kann man wirklich heute, in der hektischen Moderne unserer Zeit, noch Spuren des Gefühls auffinden, das den Meister damals zu seinen Werken inspirierte? Was ist noch übrig von Caspar David Friedrichs Welt außer der ikonischen Turmspitze des Greifswalder Doms? Ich habe mich auf den Weg gemacht und Greifswald auf seinen Spuren erkundet.
Die einstige Innenstadt hat einen Großteil ihrer historischen Bausubstanz eingebüßt – nicht wie in so vielen deutschen Städten durch Schäden während des Zweiten Weltkriegs, sondern durch Abrisse und Modernisierungen in den Jahrzehnten danach. So empfängt mich auf dem Weg vom Bahnhofsgebäude in die Altstadt weniger der Geist des Spätbarocks als der des frühen deutschen Sozialismus. Das ändert sich jedoch, als ich den Marktplatz erreiche. Gesäumt von pittoresk sanierten gotischen Giebelhäusern brauche ich nicht viel Phantasie, um mich zu der Szene von Caspar David Friedrichs zartem Aquarell “Greifswalder Marktplatz” zurück zu fühlen. Seit dem 13. Jahrhundert wird hier Handel getrieben, auch heute ist der Platz voller Stände und wuseligem Treiben.
Auf der Nordseite des Marktplatzes verläuft die Lange Straße. Das Haus mit der Nummer 58 wurde 1765 von dem Vater des Künstlers, Adolph Gottlieb Friedrich, gekauft und als Seifensiederei genutzt. Im Jahr 1774 wurde dann der Maler selbst hier geboren und bis in die 1970er-Jahre war das Gebäude noch im Besitz der Familie. Heute befindet sich hier das Caspar David Friedrich Zentrum, eine Dokumentationsstätte zum Leben und Schaffen des Künstlers und zur Geschichte der Familie in Greifswald. Im zweiten Stockwerk des Gebäudes werden wechselnde Ausstellungen von Künstler:innen gezeigt, die in ihrer Arbeit auf Friedrich und die Region Bezug nehmen. In den niedrigen Kellerräumen mit dem alten Talglsiedekessel und den beengten ehemaligen Wohnräumen erhalten Besucher:innen ein Gefühl für die Lebensverhältnisse in der Hansestadt am Ende des 18. Jahrhunderts.
Am Zentrum in der Langen Straße beginnt der Caspar David Friedrich Bildweg, der zu allen wichtigen Orten des Lebens und Werks des Künstlers in Greifswald und Umgebung führt. Der zweite Stopp entlang des Weges ist der Dom St. Nikolai, eine beeindruckende mittelalterliche Backsteingotik-Kirche, in der die Hochzeit von Friedrichs Eltern stattfand und er selbst zwei Tage nach seiner Geburt getauft wurde. Anlässlich des Jubiläumsjahres hat der Künstler Ólafur Elíasson die dominante Glasfront des Ostchors neu gestaltet. Die Fenster werden erst Anfang April feierlich eröffnet, aber schon bei meinem Besuch, bei dem die farbenprächtigen Fenster noch hinter Baufolie versteckt liegen, durchfluten warme Farben das Kirchenschiff und tauchen den ehrwürdigen Dom in ein romantisches Lichtspiel. Der beinahe 100 Meter hohe, die Skyline Greifswalds dominierende Turm des Doms, kann auch erklommen werden. Wer die 264 Stufen der engen Wendel- und der steilen Holztreppen bewältigt, wird an klaren Tagen mit einem Blick bis nach Rügen belohnt. An diesem nebligen Märzmorgen sehe ich dagegen gerade so die anderen Kirchtürme und schwach die Umrisse der alten Wehrmauern der Stadt. So wird wohl auch die morgendliche Aussicht des Turmwächters zu Friedrichs Zeiten oft gewesen sein.
Meine Fahrt entlang des Bildweges führt mich vorbei an der bereits 1456 gegründeten Universität Greifswald, an der Friedrich seinen ersten Zeichenunterricht erhielt. Raus aus der befestigten Altstadt geht es vorbei an großen Supermärkten sowie alten Bauernhöfen, vor denen Hühner picken und Katzen spielen, in Richtung des Aussichtspunkts über die Wiesen von Greifswald. Das um 1820 fertiggestellte Gemälde “Die Wiesen bei Greifswald” ist wohl das erste, was kunstinteressierte Menschen vor Augen haben, wenn sie den Namen Greifswald hören. Während ich den holprigen Feldweg entlang radle, erwarte ich kaum etwas von der Magie dieses Bildes zu erleben.
Umso überraschter bin ich, als ich am frisch renovierten Aussichtspunkt ankomme, und die Wiesen vor der Stadtsilhouette genauso satt grün und feucht daliegen, die Kirchtürme ebenso prächtig emporragen und sogar am Bildrand die braunen Pferde friedlich grasen. Hier stand er also, der berühmteste Maler der deutschen Romantik und schaute mit Liebe und Entzücken auf seine Geburtsstadt.
Zurück in der Innenstadt führt mich die Route zum Greifswalder Hafen, einem wichtigen Motiv in Friedrichs Arbeit. Da sich hier heutzutage ein Museumshafen befindet, sind Bug an Heck Tjalken, Kutter, Zeesboote und alte Frachtsegler vertäut. Mit all diesen historischen Booten, deren Maste sich im stillen Wasser des Rycks spiegeln, ist es ein Leichtes, sich vorzustellen, wie der Maler hier in den Dämmerstunden eines Sommerabends die Umrisse der Segler auf seinen Skizzenblock bannte. Um zur Szene seines berühmten Gemäldes “Greifswalder Hafen” zu gelangen, muss ich allerdings dem Ryck einige Kilometer bis zu seiner Mündung in den Bodden am Fischerdörfchen Wieck folgen, denn hier befand sich der Hafen, der Greifswald einst zu einer bedeutenden Hansestadt machte.
Das Schilf steht ungerührt am Ufer des Rycks. Solitäre, bleiche Birkenstämme ragen geradezu skulptural aus ihm empor. Kein Windhauch bewegt das Wasser, kein Laut stört die Stille. Beinahe andächtig fahre ich flussabwärts, mein Blick über die moorigen Wiesen schweifend. “Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch was er in sich sieht. Sieht er also nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.”, wird Caspar David Friedrich zitiert. Welch tiefe Emotionen muss diese Landschaft bei dem Künstler ausgelöst haben, dass er sie als Grundlage so vieler Bilder nahm, so viele Skizzen hier anfertigte, so viele Ideen hier entsprangen.
Der Greifswalder Bodden liegt heute in surrealer Ruhe. Das Wasser und der Himmel sind schier gleichfarbig, das andere Ufer nicht zu erkennen. Die Rufe der Möwen und der endlose Horizont geben mir das Gefühl, bereits das Meer erreicht zu haben. Vor 250 Jahren wäre die Szene eine ganz andere gewesen. Schiffe liefen ein und aus, Waren wurden verladen, von den Werkstätten wäre ein stetiges Klopfen und Hämmern herübergehallt. Vielleicht gab es eine Gaststätte, in der die müden Seeleute ihren Durst gelöscht haben, sicherlich herrschte lebendiges Treiben, tagein und tagaus. Heute lehnen zwei einsame Angelruten an der Kaimauer. Die Angler dazu sind nirgends zu sehen.
Unweit der Mündung des Rycks in den Greifswalder Bodden liegt auch die Klosterruine Eldena. Kaum ein Gebäude scheint den Maler so beeindruckt zu haben wie die Torbögen des einstigen Klosters. 1199 gegründet, lebten hier bis ins 16. Jahrhundert hinein Mönche des Zisterzienserordens, bevor das Kloster im Zuge der Pommerschen Reformation aufgegeben wurde. Schon zu Friedrichs Zeiten war von dem sicherlich einmal imposanten Bau wenig übrig. Umso wildromantischer mutet der Torbogen an, der einsam, abgetrennt vom Kirchenschiff, zwischen Bäumen auf einem Hügel steht. In Friedrichs Werken erscheint die Ruine mal in dschungelgleicher Vegetation, mal in dramatischem Licht, mal wurde sie gar ins Erzgebirge versetzt. Sein wohl bekanntestes Gemälde von Eldena, die “Abtei im Eichwald”, wurde 1810 vom preußischen König Friedrich Wilhelm II. gekauft, was ihm endgültig und bereits zu Lebenszeiten zu großem Ruhm verhalf.
Am nächsten Morgen stecken die Türme der Greifswalder Kirchen fest in den tiefhängenden Wolken. Ich wandere durch das Moor vor den Toren der Stadt, Caspar David Friedrichs Gemälde vor meinem inneren Auge. Ich halte inne und lasse die karge Landschaft auf mich wirken und denke an eine Strophe des romantischen Dichters Ludwig Gotthard Kosegarten, der Friedrich sehr inspiriert hat:
Mein Herz ist noch so offen,
So schwärmend und so wild,
Mein Sehnen und mein Hoffen,
Noch immer unerfüllt.