Das Glück unter der Erde
Wie ist es eigentlich, 1500 Meter unter der Erde zu arbeiten?
Interview für Reisevergnügen, Original-Story hier.
Es ist kühl, stickig und die Luft schmeckt merkwürdig steinern. Schwache Grubenlampen beleuchten die langen Gänge des Stollens und bei jedem Schritt muss ich aufpassen, weder zu stolpern, noch mir den Kopf an irgendwelchen Metallteilen anzuschlagen. Nicht gerade der perfekte Arbeitsort, möchte man meinen. Und doch stehen vor mir Volker und Andreas, selig lächelnd, und reden mit einer Inbrunst über die Arbeit unter Tage, als würden sie von ihrer großen Liebe sprechen. Ich treffe die beiden bei einer Aktiv-Führung im Trainingsbergwerk Recklinghausen im nördlichen Ruhrgebiet.
Über 1.400 Meter erstrecken sich hier unterirdische Stollen, womit Volkers und Andreas’ Reich das größte Steinkohlebergwerk überhaupt ist, das seine Tore für Betriebsfremde öffnet. Seit 2019 können Besucher*innen hier bei verschiedenen Führungen so hautnah wie nirgendwo sonst erleben, wie die Lebensrealität unter Tage war. Und das unter erträglichen Bedingungen, denn selbst wenn mir die Luft im Stollen staubig erscheint, ist es kein Vergleich zur tatsächlichen Atmosphäre bei der Kohleförderung: In der Tiefe der Erde herrschten standardmäßig über 30 Grad Celsius und die Luftfeuchtigkeit konnte bis zu 90 Prozent betragen. Da wussten die Arbeiter*innen nicht, ob ihnen Schweiß oder Kondenswasser von der Stirn tropfte.
“Die Arbeit war zwar dreckig, die Arbeit war zwar schwer, aber die Leute haben zusammengehalten, mussten sie ja auch.”
Der erste Schacht in Recklinghausen wurde schon 1869 von einer belgischen Firma gegraben, die ihn “Schacht Clerget” taufte. Da im Ruhrgebiet natürlich niemand diesen Namen aussprechen konnte, wurde er vom Volksmund in “Schacht Klärchen” umgetauft, ein Name, der sich bis heute hält und auch für das Trainingsbergwerk benutzt wird.
Andreas betrat das Klärchen zum ersten Mal 1986 als Auszubildender, als hier noch reger Trainingsbetrieb herrschte. Er wollte unbedingt zum Bergbau, obwohl in seiner Familie niemand in der Grube arbeitete – ein eher ungewöhnlicher Weg. Aber er fand die Arbeit unter Tage so spannend und faszinierend, dass sein Weg für ihn klar war und er direkt nach der mittleren Reife seine Ausbildung begann. Diesen Schritt hat er nie bereut, obwohl in den 1980er-Jahren schon klar war, dass die Zukunft des Bergbaus mehr als ungewiss war.
Und auch wenn die Arbeit dem jungen Bergmechaniker-Lehrling wahnsinnigen Spaß gemacht hat, ist es etwas anderes, an das er sein Herz vollends verloren hat: “Die Kumpelhaftigkeit war einfach einmalig und ist es hier in Recklinghausen immer noch”, erzählt er begeistert. Sogar seine Hochzeit hat Volker im Bergwerk gefeiert und er hat noch immer Tränen in den Augen, wenn er an die Kameraden in ihren Uniformen zurückdenkt, die das Steigerlied anstimmten, die Hymne des Bergbaus.
Glückauf, Glückauf; der Steiger kommt; und er hat sein helles Licht bei der Nacht … schon angezünd’t. …. Ade Ade, Ade Ade; Herzliebste mein; denn da drunten im tiefen finstern Schacht bei der Nacht …. da denk ich dein, da denk ich dein.
Bei der Führung durch das Bergwerk merke ich schnell, dass diese Arbeit etwas ganz Besonderes war, dass die Menschen, die unter Tage arbeiteten, einen ganz speziellen Bund miteinander eingegangen sind. Andreas fasst es so zusammenfasst: “Die Arbeit war zwar dreckig, die Arbeit war zwar schwer, aber die Leute haben zusammengehalten, mussten sie ja auch.” Denn es war gefährlich unter der Erde: Schächte konnten zusammenbrechen, Ärmel konnten sich in Maschinen verhaken und auch bei einem Kreislaufkollaps war man sehr, sehr weit vom nächsten Notarzt entfernt.
Darum wird die Führung immer wieder durch schaurig-fröhliche Anekdoten der Beiden bereichert. Etwa von der Notärztin, die allen Ernstes mit Absatzschuhen im Stollen ankam und zum Patienten getragen werden musste. Oder vom Bergmann “Max”, der nur haarscharf dem sicheren Tod im Stein-Brecher entgangen ist, weil sein Karabiner am Förderband festhing. Kameradschaft bedeutete Sicherheit unter Tage, auch das erklärt ihren hohen Stellenwert.
“Als ich dieses Bergwerk das erste Mal betreten habe, die Tore aufgingen und ich diese Luft eingeatmet habe, da war’s um mich geschehen, da wusste ich sofort, dass ich hier arbeiten werde”, antwortet Andreas mit einem schelmischen Grinsen auf meine Frage, warum er als Ehrenamtler in Recklinghausen arbeitet. Fast 25 Jahre lang hatte er als Steiger – ein Ingenieur, der als Aufsichtsperson im Bergbau arbeitet – malocht, bis er 2006 den Helm das letzte Mal abnehmen musste – er hätte gerne weitergemacht: “Das war schon ein ganz anderes Arbeitsverhältnis als irgendwo im Büro oder so etwas.” So etwas Langweiliges möchte ich fast ergänzen, wenn ich mir den Glanz in seinen Augen ansehe.
Die Begeisterung von Menschen wie Volker und Andreas sorgt dafür, dass der Besuch in Recklinghausen etwas ganz Besonderes ist. Natürlich ist es auch cool, dass bei der Aktiv-Führung die originalen Maschinen nicht nur bewundert, sondern auch ausprobiert werden können: Wie schwer es ist, mit einem zwei Meter langen Bohrer in eine Felswand zu bohren, auf einem Grubenrand über die Schienen zu düsen oder welch ohrenbetäubenden Lärm Förderbänder in Tunneln machen, sind alles einmalige Erfahrungen, die es sonst nirgendwo zu erleben gibt.
Aber was ich wirklich mitgenommen habe, ist eine tiefe Bewunderung für die Ingenieurskunst, die hinter dem Kohleabbau steckte, und für all die Menschen, die mit ihrer harten Arbeit den Wohlstand dieses Landes möglich gemacht haben, mit so viel Schweiß und Tränen. Und mein Staunen darüber, dass sie es immer wieder tun würden. Zum Abschied lächelt Volker in die Ferne: “Ich sage es, wie es ist, das ist für uns wie Wellness, den Leuten unser Leben und unsere Arbeit näher bringen zu können.”