Das Meer im Nahen Osten
Das Meer im Nahen Osten – ein Roadtrip entlang der polnischen Ostseeküste
Fotografiert und geschrieben für das OSTSEE-Magazin 2023, ganze Story hier.
Freitag, 19.8.2022: Ankunft in Świnoujście auf Uznam
Schwere Wolken hängen am grauen Himmel, als ich gegen Nachmittag die polnisch-deutsche Grenze zwischen Ahlbeck und Świnoujście erreiche. Ich parke auf einem riesigen leeren Schotterparkplatz, der an Zeiten erinnert, als diese Grenze noch um einiges mehr bedeutet hat. Im auffrischenden Wind eilen mit Plastiktüten behangene und mit Bierpaletten bepackte Menschen zur deutschen Seite der Grenze. Ich steige aus und mache mich in die andere Richtung auf, in die Dünen, wo Pfähle in den Farben der polnischen und deutschen Flaggen den Grenzverlauf im Kiefernwald markieren. Ich stapfe durch den Sand in der vergeblichen Hoffnung, einen ersten Blick auf die polnische Ostsee erhaschen zu können.
Auf der polnischen Seite der Grenze ziehen die Betreiber der unzähligen kleinen Marktstände mit Schwung ihre Rollläden zu, ein weiterer Tag deutschen Shopping-Wahns ist geschafft. Das einzige noch geöffnete Zigaretten-Büdchen schaut still über die wilden Gräser hinweg. Das ruhige Grenzviertel hat etwas von einem verlassenem Dorf, das Skelett der Marktstände, das von vergangenen Zeiten zu erzählen scheint.
Einen krassen Gegensatz dazu bildet die Strandpromenade von Świnoujście, die mich daran erinnert, dass ich mich in den polnischen Generalferien befinde, die einheitlichen Sommerferien, die den ganzen Juli und August andauern. In dieser Zeit verwandeln sich Teile der polnischen Ostseeküste in einen nie enden wollenden, blinkenden und bimmelnden Jahrmarkt. Es gibt Hüpfburgen und aufgeblasene Palmenwedel, Autoscooter und Airhockey, Zuckerwatte und geringeltes Eis, es können Kuscheltier-Ponys geritten, Luftballons gewonnen und wieder verloren werden – kurz es ist ein fiebriger Kindertraum. Rund um mich herum zupfen polnische wie deutsche Kinder ihren genervten Eltern an den Hosenbeinen und rufen, mal fordernd, mal quengelnd nach Zuckerwaffeln, Spielzeug und Geld, während die Fahrgeschäfte in der Dämmerung lockend blinken.
Ich lasse die trubelige Strandpromenade hinter mir, setzte mich auf mein Rad und radele durch die Straßen von Świnoujście, in denen sich glänzende neue Hotelfronten und prächtige Gründerzeitbauten abwechseln. Die Diskrepanz zwischen den repräsentativen Straßen in Strandnähe, mit den Prachtbauten und ihrem nahezu hysterischen Treiben, und den ruhigen, vergessenen Nebenstraßen könnte kaum größer sein. Aus den Vorgärten hallt das Gelächter von polnischen Familien, die auf Klappstühlen rund um ihren Grill sitzen.
Der kühle, dunkle Buchenwald zwischen dem Kurpark Zdrojowy und dem Fort Anioła, der Engelsburg, ist mir eine willkommene Pause. Das Fort ist eine preußische Festung aus den 1850er-Jahren, die inzwischen zur Tourist_innen-Attraktion ausgebaut wurde. Hinter dem Fort erreiche ich die Mündung der Świnia, der namensgebende Fluss der Stadt. Unzählige Kiter wagen ihre ersten Sprünge an dem endlos wirkenden Sandstrand, der sich bis zur Peenemündung auf Usedom auf der anderen Seite der Insel erstreckt.
Zurück an meinem Transporter mache ich mich auf den Weg zu meinem Stellplatz für heute Nacht, dem Hafen von Świnoujście. Ich parke mein Auto mit Blick auf den Segelhafen, in zweiter Reihe am Wasser. Später, mit geschlossenen Türen im Bett, schlafe ich ein zum Schlagen der Wanten an den Masten und dem Piepsen der Kräne des Industriehafens auf der anderen Seite des Flusses.
Samstag, 20.8.2023: Świnoujście bis Niechorze
Der Regen fizzelt unaufhörlich während ich mich zur Abfahrt fertig mache, um mich in die wahrscheinlich kilometerlange Schlange zur Kosibór-Fähre zu stellen, mit der alle Autos ohne Kennzeichen der Region über die Świnia übersetzen können. Das lerne ich natürlich erst, nachdem ich bereits eine halbe Stunde in der Schlange zur falschen Fähre gestanden habe, dank des freundlichen Fahrers des Autos vor mir, der mich darauf hingewiesen hat, dass ich mit meinem Berliner Kennzeichen nicht auf dieses Schiff gelassen werde. Immerhin duftet es während der Wartezeit – in der tatsächlich drei Kilometer langen Schlange vor dem richtigen Fährhafen – ganz wunderbar nach nasser Kiefer. Auf beiden Seiten der Landstraße erstreckt sich ein Wald, dessen Moosboden mit den zartesten Blumen gesprenkelt ist. Dass bei dem mittlerweile prasselnden Regen außerhalb des Autos eh nicht viel zu erleben wäre, macht das Warten erträglicher – warum musste ich meine Reise auch ausgerechnet am Wochenende beginnen…
Nach zweieinhalb Stunden bin ich endlich in Sichtweite des Terminals. Zwei Fähren setzen unaufhörlich über den Fluss, der hier unten schon wesentlich schmaler ist als an seiner Mündung in Świnoujście. Die Schwalben tanzen tief um uns herum und fangen die Mücken aus der Luft. Noch sind sie nicht gen Süden gezogen. Die kurze Fährfahrt ist sehr aufregend, zumindest für mich, denn es ist meine erste Überfahrt mit dem Auto. Ich springe aufgeregt mit meiner Kamera zwischen den Autos an Deck umher, während mich aus allen anderen Gefährten gelangweilte Augen irritiert beobachten.
Auf der anderen Seite der Świnia bin ich auf Polens größter Ostseeinsel Wolin angekommen und mache mich auf nach Misdroy, um den Nationalpark Wolin mit dem Rad zu erkunden. Ich habe mir eine einfache Fahrradtour ausgesucht. Sie beginnt an einer Straße zwischen dem prächtigen Buchenwald des Naturschutzgebiets und dem Wicko Wielkie, einer Bucht im Norden des Stettiner Haffs. Nachdem ich mein Fahrrad über zwei umgestürzte Baumstämme gehoben, es durch mehrere tiefe Sanddünen gezogen, auf einen Berg hinauf und eine steile Treppe wieder hinunter geschoben habe, kommen mir Zweifel daran, dass mir meine Übersetzungs-App die Wahrheit gesagt hat und es sich hierbei um eine Fahrradroute handelt. Aber die Landschaft ist alle Strapazen wert: Neblige Felder, die im konstanten Nieselregen beinahe tropisch wirken, und ein plötzlich auftauchender, tief-türkisener See, der Höhepunkt dieser Tour.
Zurück im Auto fahre ich die 102 entlang, die Küstenstraße, die von Misdroy bis Kołobrzeg führt. Nach der Fahrt durch den majestätischen Buchenwald des Nationalparks reiht sich ein Ferienort an den anderen: Kleine Holzbuden, aus denen Essen, Eis und Souvenirs angeboten werden und Campingplätze mit perfekter Infrastruktur, so groß wie kleine Dörfer. Die Straße ist gesäumt von Werbebannern für Spielplätze, Hüpfburgen und Miniaturparks für alles Mögliche.
Es regnet noch immer und der kleine Ort ist in der Dämmerung wie leergefegt. Ich steige die Stufen zum Leuchtturm hinauf, um meinen Blick über das aufgewühlte Meer bis zu den fernen Lichtern der Kräne des Hafens von Świnoujście streifen zu lassen. Die blinkenden Fahrkarouselle im Nebel verleihen der Landschaft etwas Unwirkliches.
Sonntag, 21.8.2022: Niechorze bis Ustka
Am Sonntagmorgen herrscht rege Aufbruchstimmung auf dem Kamping Pomona in Niechorze. Meine Nachbarn fegen so leidenschaftlich ihre Camper und Zelte aus, dass sie mich beinahe damit anstecken. Doch glücklicherweise habe ich keine Zeit zum Putzen, sondern klappe mein Bett zusammen und breche Richtung Kołobrzeg auf, den einzigen Ort an der polnischen Ostsee, den ich schon einmal besucht habe. Statt die direkte Route über die 102 zu nehmen, beschließe ich, bei Trzebiatów auf die Küstenstraße zu wechseln und so zuckele ich mit 30 km/h zwischen Feldern, weiteren Feriensiedlungen und den Dünen entlang.
In Kołobrzeg angekommen, meide ich die wilde Strandpromenade und gucke mir stattdessen die Altstadt an. Da die Stadt in der Schlacht um Kołobrzeg 1945 fast vollständig zerstört wurde und in den 1980er-Jahren nach alten Vorlagen rekonstruiert wurde, ist bis auf den Dom kein Gebäude hier wirklich alt. Aber das macht die Innenstadt nicht weniger interessant: Hinter den historisch anmutenden kleinen Häusern thronen die Plattenbauten der 1970er-Jahre, ein ästhetisch spannender Kontrast.
Am Sonntag ist die Innenstadt vergleichsweise ruhig, bis auf das Gedränge vor dem Dom, wo die Gläubigen bis auf die Straße stehen, um zur Sonntagsmesse zu beten. Paare und Familien mit tobenden Kindern schlendern langsam durch die satt-grünen Parks neben der Altstadt. Ein Sonntag in den Sommerferien, kollektive Ruhe breitet sich aus. Bis ich die Mole erreiche, wo sich trotz des verhangenen Himmels die Menschen drängen. Auf dem langen Pier, für den sogar Eintritt gezahlt werden muss, ist es ein einziges Schieben und Drücken. Überhaupt gleicht das ganze Hafenareal einem Jahrmarkt, eingebettet in für mich nervige, laute Musik.
Ich fliehe zurück in mein Auto und verlasse Kołobrzeg auf der 11 Richtung Koszalin. Ab Gąski wechsele ich auf die Küstenstraße, was ich recht schnell bereue. Ich fahre durch absolut austauschbare Urlaubs-Bespaßungs-Höllen. In jedem Ort scheinen die exakt selben Buden zu stehen, dieselben Fahrgeräte, dieselbe Werbung für die immer dieselben Sehenswürdigkeiten.
Kurz vor Łazy lege ich einen Stop ein um mich von diesem Stress zu erholen. Łazy liegt auf einer schmalen Nehrung, zwischen der Ostsee und dem See Jezioro Jamno. Ich spaziere auf einem alten Bahndamm mit beidseitigem Blick auf das Wasser, auf der einen Seite rollen Wellen kräuselnd auf den Strand, auf der anderen Seite liegt der See still hinter einem breiten Streifen Schilf. Ich genieße die Ruhe, die Stille, den weiten Blick, das Kontrastprogramm zu all den Touri-Orten die Küste entlang.
In Ustka übernachte ich auf einem kuriosem Stellplatz. Die Anlage scheint zu einem größeren, halb verfallenen Campingplatz und Feriendorf zu gehören. Auf dem weitläufigen Gelände stehen verschiedene Hütten, im verwilderten Gebüsch dazwischen tollen kleine, schwarze Katzenkinder umher. In dem Haus, welches als Rezeption fungiert, sitzt eine uralte Dame an einem Tisch mit Spitzendeckchen, auf dem Gläser mit Essiggurken stehen, die sie gerade eingemacht hat. Dank meines Handys kann ich ihr verständlich machen, dass ich hier übernachten möchte und sie führt mich zu einer größeren Wiese, auf der Autos, Camper und Zelte stehen. Die Menschen davor winken mir freundlich zu.
Der Campingplatz liegt am Rande von Ustka, nur der Kurpark in den Dünen liegt zwischen mir und dem Meer, zu dem ich zum Sonnenuntergang spaziere. Am Strand angekommen bin ich fassungslos: Die Sonne ist soeben untergegangen und die Wolken am Himmel sind in unfassbare Farben getaucht. Als wäre das noch nicht genug, erstreckt sich ein doppelter Regenbogen auf der anderen Seite des Strandes. Still schweigend stehen ich und die anderen Menschen am Rand der Düne und starren mit offenen Mündern den Strand hinab. Was für ein Ende für einen beschwerlichen und langen Tag.
Montag, 22.8.2024: Ustka bis Plaża w Lubiatowi
Als ich am nächsten Morgen mit meinem Rad die Promenade von Ustka entlang fahre, scheint mit dem Wochenende auch der Trouble vergangen zu sein. Die Straßen sind leer, nur die verschlossenen Büdchen, die den Blick auf die schönen alten Häuser verstellen, erinnern an das wilde Treiben. Ich schlendere den Sandstrand entlang, durch die wunderschöne Innenstadt bis zum Hafen, wo ich eine Art Bunker-Vergnügungspark besuche, für eine Deutsche ein etwas befremdliches Konzept. Ich kaufe mein Ticket von einem Mitarbeiter im Military-Dress, der mich freundlich fragt, ob ich auch an Schießübungen oder dem Minen-Hindernis-Lauf teilnehmen möchte. Ich lehne dankend ab und besuche lediglich die Bunkeranlage, in der eine beklemmend gut gemachte Ausstellung über die Geschichte Ustkas im Zweiten Weltkrieg informiert.
Nach meiner Erkundung von Ustka mache ich mich auf zum Słowiński Park Narodowy, um die gewaltige Lontzke-Wanderdüne bei Łeba zu besuchen. Der Weg durch den Park bis zur Düne ist wunderschön. Von einem Hochstand hat man einen beeindruckenden Überblick über das einmalige Ökosystem: Der Übergang zwischen See, Schilf, Moor mit Buchenwald, Kiefernwald und schließlich der Düne, die bis zum Meer reicht, ist völlig klar zu erkennen.
Die Düne selbst ist noch spektakulärer, als ich erwartet habe. Schier endlos erhebt sich der Sand, die Düne ist so groß, dass sich die Menschen darauf geradezu verlieren, wie Ameisen in einem Sandkasten. An ihrem höchsten Punkt misst sie 42 Meter, sie erstreckt sich über ein 1300 Meter langes und 500 Meter breites Gebiet. Und jedes Jahr treibt der Wind sie circa 12 Meter weiter gen Osten. Ich laufe am Rand der Düne entlang, wo die toten Baumstämme emporragen und wo der Sand Körnchen für Körnchen alles begräbt, was im im Wege ist: Ganze Dörfer liegen unter den Weiten dieser polnischen Wüste begraben. Wenn ich ganz still bin, höre ich das Geräusch, eine Art Schleifen, so leise, dass es die Umgebung stiller zu machen scheint: Die Wanderung von unzähligen Sandkörnern, die Düne auf Reisen.
Der Tag bleibt so wunderbar. Die Straße nach Kopalino ist schön wie ein Geschenk. Völlig ohne Verkehr fahre ich durch einen Tunnel aus Grün. Die gelegentlich vorbeiziehenden Felder leuchten so golden im Gegenlicht, dass es unwirklich ist. Genau wie der Campingplatz, den ich kurz darauf erreiche. Ich habe gerade beschlossen, dass ich mich verfahren haben muss, als ein Schild im Wald auftaucht und ich da bin. Auf einem riesigen Campingplatz, mit rudimentärer Infrastruktur, direkt hinter der Düne am Meer. Dauercamper haben sich Lager aufgebaut, in denen sie offensichtlich den ganzen Sommer verbringen werden. Mein Nachbar bestätigt dieses Gefühl, er war schon als Kind mit seiner Mutter hier und kommt jetzt selbst seit 24 Jahren hierher. Nach dem einminütigen Gang zum Meer, wo ein weiterer traumhafter Sonnenuntergang wartet, weiß ich warum.
Dienstag, 23.8.2022: Plaża w Lubiatowie bis Gdańsk
Ich frühstücke am Meer. Neben mir sitzt ein Pärchen auf weißen Klappstühlen und trinkt Händchen haltend Kaffee aus Emaille-Tassen. Bei meinem langen Strandspaziergang kommen mir nur Familien mit Hunden entgegen, die mit wedelnden Schwänzen und riesigen Stöcken im Maul an mir vorbei traben. Welch ein Paradies. Nach einer Runde Yoga direkt vor der Brandung steige ich wieder ins Auto. Das Ziel heute ist die Halbinsel Hel, eine Nehrung, die an ihrer schmalsten Stelle nur 400 Meter breit ist. Von Władysławowo aus startet die einzige Straße, über die man die Insel erreichen kann, und natürlich staut es sich bereits bis weit in den Ort hinein. Das allerdings gibt mir mehr Zeit um über das Wasser der windstillen Bucht zu blicken, auf dem Surfer wie Pünktchen am Horizont stehen, unbeweglich auf der spiegelglatten Fläche, und einer nach dem anderen, wie bei einem Dominospiel, von ihren Segeln ins Wasser gezogen werden.
Auch auf Hel scheinen Kriegsspielzeuge groß im Rennen zu sein: Kettenfahrzeuge fahren Männer in Spaß-Uniformen mit ohrenbetäubenden Lärm die Straße hinab, zwischen chinesischen Kuscheltier-Robben werden Fake-Kalaschnikows angeboten und kleine Kinder weinen, weil sie gerne die Aktion-Figur des auf dem Bauch robbenden Soldaten hätten. Auf dem Weg zum weiten Sandstrand an der Spitze von Hel wandere ich durch Kiefernwälder voller verlassener Gebäude, die teilweise militärisch, teilweise touristisch anmuten. In jede Richtung scheint hier schon einmal mehr los gewesen zu sein. Am Strand stehen ein paar Hüpfburgen verloren in der Weite, Familien mit gepackten Picknickkörben suchen sich ihr Fleckchen für den heutigen Tag.
Der Ort Hel dagegen ist gerammelt voll mit Menschen. Die Schlange vor der Robbenstation ist so lang, dass ich den Besuch sofort aufgebe, an den Mauern stehen Kinder auf den Schultern ihrer Eltern, um einen Blick auf die possierlichen Tiere erspähen zu können. Meine Lieblings-Sehenswürdigkeit der Ortes ist das Helskie Jajo, das Hel-Ei, ein zwiebelförmiges Gebäude, das wohl einmal zum Yachthafen gehörte, heute aber leer zu stehen scheint.
Ich mache mich auf den Weg zur anderen Seite der Lagune, da ich heute noch Gdańsk erreichen möchte. Kaum habe ich die Halbinsel verlassen geht es ganz schnell und ich bin mitten im Getümmel der Dreistadt, dem Ballungsraum aus Gdynia, Sopot und Gdańsk. Ich verfahre mich mehrmals in Gdynia, abgelenkt vom beeindruckenden Industriehafen, den majestätischen Eisenbahnbrücken und dem Bahnhof, bevor ich endlich Sopot erreiche.
Der mondäne Strandort schreit nach bodenlangen Kleidern, schallendem Gelächter und klirrenden Gläsern. Am Strand hat jedes große Hotel seinen Bereich, ausgestattet mit Betten unter weißen Baldachinen und schicken Bars mit Barhockern im Sand, Kellner in weißer Uniform eilen umher. Ich beobachte das Treiben mit einem Aperol Spritz in der Hand, es ist ein Sehen und Gesehen werden und mit meiner staubigen, von der langen Fahrt verschwitzten Kleidung falle ich auf. Ich erreiche meinen Stellplatz am Sportplatz der Universität von Gdańsk in der Dämmerung, bei mal wieder prasselndem Regen.
Mittwoch, 24.8.2022: Gdańsk
Meine Erkundung der Perle der Ostsee fängt mit einer Überraschungs-Entdeckung an: Noch bevor ich die Altstadt erreiche, lockt mich ein alter Schiffskran an und ich finde mich auf dem Gelände der ehemaligen Kaiserlichen Schiffswerft wieder. Die alte Werft ist ein weitläufiges Industriegebiet, auf dem sich ganz offensichtlich die Vergangenheit und die Moderne treffen. In den 1980er-Jahren wurde hier die Solidarność-Bewegung gegründet, heute gibt es hier Ausstellungen, Pop-Up-Cafes, eine Bar mit Blick auf den Industriehafen und trotzdem noch viele Hallen, in denen Handwerk betrieben wird. Eine Glocke kündigt eine Pause an und Menschen in Arbeitsklamotten und Schutzhelmen eilen aus allen Türen in den Hof. Ich habe noch nie so viele Frauen in Baustellen-Uniform gesehen, es ist ein gutes Gefühl.
Am Ufer der Motɫawa entlang führt ein schöner Fahrradweg bis zu Altstadt – auch diese nach der vollständigen Zerstörung 1945 eine Rekonstruktion. Und sie wirkt auf mich pittoresk, aber irgendwie unlebendig. In der Długa, der Langen Gasse, welche die Hauptachse der Altstadt ist und an der die meisten Sehenswürdigkeiten liegen, drängen sich Massen von hauptsächlich deutschen Touristen. Doch nur eine Straße nach rechts oder links sind nette kleine Cafes, die Straßen sind ruhiger, die Menschen entspannt.
Ich nehme eine Wassertram, um mir das Denkmal zu Ehren der Verteidiger der Westerplatte beim ersten Angriff des Zweiten Weltkriegs anzusehen. Die Fahrt führt durch den riesigen Hafen, in dem Containerriesen be- und entladen, Waren gestapelt und verpackt werden. Auf der Westerplatte selbst ist es überraschend ruhig, es scheint, als würden sich die meisten Touristen eher für Souvenirläden und nette Restaurants als für Denkmäler interessieren. Der eindrucksvollste Teil der Open Air Ausstellung zur Geschichte der Westerplatte, die den Weg zum Denkmal säumt, ist die Ruine einer alten, zerbombten Kaserne, die man trotz offensichtlicher Einsturzgefahr betreten kann.
Zurück in Gdańsk lasse ich mich durch die Straßen treiben, bewundere Graffitis und sehe mir kleine Ausstellungen an, spaziere durch die Neustadt und nehme einen Abschiedsdrink am Hafen, beinahe alleine an der Bar, wie sooft auf dieser Fahrt außerhalb der Touri-Hotspots. Die Sonne geht ein letztes Mal unter, diesmal eindrucksvoll hinter der Silhouette des Industriehafens von Gdansk. Es ist Polens letzte Ferienwoche und das Ende des Sommers liegt in der Luft wie der Duft der beinahe reifen Hagebutten in den Ostseedünen.