Rocinantes erste Reise
Ich stehe am Steuerrad von Rocinante, das Thermometer zeigt vier Grad an, wütender Wind peitscht mir ins Gesicht und es hagelt – zum dritten Mal heute. Vor mir an der Reling steht unser Skipper, mein alter Freund Jan, um mir die Hagelkörner aus den Augen zu halten. Nicht, dass es viel zu sehen gäbe. Die aufgewühlte See geht nahtlos in den zornigen Himmel über. Eine einzige Frage ist in meinem Kopf: Was um alles in der Welt mache ich hier?
Durch Jan bin ich auf Boote gekommen, auf den Schiffen seiner Familie habe ich das Segeln lieben gelernt. In den letzten zehn Jahren haben wir zusammen viele Abenteuer zu Wasser erlebt. Nun hat für ihn ein Neues begonnen, er hat sein erstes eigenes Schiff gekauft. Wir haben sie in Hamburg Wedel im Hafen getauft, auf SY Rocinante. Sie ist eine Jeanneau Sun Odyssey 43, circa 14 Meter lang, benannt nach Don Quijotes Pferd. Als er mich fragt, ob ich bei ihrer ersten Fahrt von Hamburg nach Rotterdam dabei sein möchte, muss ich nicht lange nachdenken – allerdings habe ich mir das mit dem Wetter Anfang April irgendwie anders vorgestellt.

Unsere erste Etappe: flussabwärts zur Nordsee

Die erste Etappe der Fahrt – die Elbe hinunter von Hamburg bis zu ihrer Mündung bei Cuxhaven – ist ganz schön aufregend. Außer uns sind vor allem riesige Containerschiffe zur Nordsee unterwegs. Der Wind nimmt immer mehr zu und schafft es, auf dem breiten Fluss erstaunliche Wellen gegen uns aufzupeitschen. Zwischenzeitlich denken wir sogar darüber nach, umzukehren. Zum Glück ist Jan ein erfahrener Skipper, der es wie immer schafft, meine Sorgen zu beruhigen. Als wir es am Abend in den Hafen schaffen, sind wir todmüde, hungrig, nass, durchgefroren und am Ende unserer Kräfte. Ein runder Segeltag also.
Am nächsten Morgen bläst der Wind noch stärker aus der falschen Richtung und wir beschließen, einen Hafentag einzulegen. Zum Glück gibt es auf Segelschiffen auch immer etwas zu reparieren. So verbringen Jan und ich den Tag damit, Rocinante für ihre großen Pläne fit zu machen: Ihre erste von hoffentlich vielen Atlantikrunden, die du auf Wo ist Roci verfolgen kannst – auch Rocinante segelt, wie ich, lieber in warmen Gefilden.
Das offene Meer
Endlich hat sich das Wetter zu unseren Gunsten verändert, ein stetiger Ostwind ist aufgekommen und wir entscheiden uns, Kurs auf Borkum zu nehmen: Vor uns liegt ein über 24 Stunden langer Schlag – so nennt man beim Segeln die zurückgelegte Strecke zwischen Wende-Manövern – durch die Nacht an den ostfriesischen Inseln vorbei. Es ist nicht meine erste Nachtfahrt, aber die erste in der Nordsee, im Frühling.
Am meisten Sorgen machen mir die Temperaturen. Es ist knapp über null Grad und schon vor Sonnenuntergang ist mir kalt. Wir haben die Nacht in dreistündige Wachschichten eingeteilt. Wache halten bedeutet, Kurs und Schiff zu überwachen, aber vor allem rumsitzen und gegen Kälte und Müdigkeit anzukämpfen. Das wichtigste Hilfsmittel nachts an Bord ist das AIS, ein UKW-System, das die Daten von umliegenden Schiffen auf einer Karte anzeigt. So wissen wir, welche Boote auf welchem Kurs um uns herum sind.
So eine Nachtfahrt auf der Nordsee mag romantisch klingen, die Realität ist es nicht. Die deutsche Nordseeküste ist eine wahnsinnig vielbefahrene Schifffahrtsstraße, eine echte Wasser-Autobahn. Containerschiffe, Frachter, Fähren, Militärschiffe – hier ist was los. Ein zusätzliches, großes Problem sind die illegalen Fischer, die erst immer im letzten Moment ihr GPS anschalten – oder einfach das Flutlicht anmachen: Plötzlich erscheint vor dir auf offener See ein hell beleuchtetes Boot, mitten auf deinem Kurs. Da kann die Langeweile der Nacht schnell in Hektik umschlagen.

Das Ijssel- und das Markermeer

Vor uns liegt eine weitere Nachtfahrt, aber Langeweile macht uns diesmal keine Sorgen. Zum Einbruch der Nacht finden wir uns und zwei weitere Segelboote vor der Eisenbahnbrücke am Houthaven ein, dem Startpunkt der Staande Maast-Fahrt durch die niederländische Hauptstadt. Auf dem Wasser werden viele Dinge noch sehr altmodisch organisiert und so sitzen wir auf unseren Schiffen, mit den Funkgeräten auf Kanal 69, und warten auf das Signal, wann die Eisenbahnbrücke für uns öffnen wird. Das angegebene Zeitfenster: zwischen 23 Uhr und drei Uhr morgens. Gegen zwei Uhr reißt uns ein Rauschen aus dem leichten Schlaf: Die Brücke wird in zehn Minuten geöffnet, Motor an, es geht los!
Die Brücken werden manuell geöffnet, das bedeutet, dass mehrere Brückenwärter*innen auf Fahrrädern neben uns den Kanal entlangfahren und eine Brücke nach der anderen für uns hochgeklappt wird. Trams, Busse, Autos, Fahrradfahrer*innen und schaulustige Passant*innen – sie alle müssen auf uns warten. Die Fahrt durch das nächtliche Amsterdam ist unglaublich. Berühmte Gebäude leuchten still in der Entfernung, wir passieren eine Windmühle sowie eine hell erleuchtete Moschee. Die Autobahnbrücke vor dem Nieuwe Meer öffnet sich in apokalyptischer Atmosphäre kurz vor Sonnenaufgang. Jetzt nur noch die Brücke bei Schiphol und unsere Fahrt durch flaches Land kann weitergehen.
Gemächliche Fahrt nach Gouda
Schweigend tuckern wir durch die langsam erwachende Landschaft, Wildgänse begleiten unsere Fahrt, Schwäne stochern am Ufer nach ihrem Frühstück und verblüffte Kühe sehen uns mit großen Augen nach. Hübsche, aufgeräumte Dörfer und kleine Städte ziehen an uns vorbei, bis wir am Nachmittag Gouda erreichen. In Gouda ist Markttag und das wollen wir uns natürlich nicht entgehen lassen. In unseren Segelklamotten leicht deplatziert stehen wir zwischen den gut gelaunten Goudaner*innen auf dem Markt, essen Waffeln und – du ahnst es – stoßen auch auf diese Etappe an.
Die Zieleinfahrt in Rotterdam
Die Einfahrt nach Rotterdam ist ein besonderer Moment. Mit ihrer beeindruckenden Skyline wirkt Rotterdam um einiges urbaner als das gemütliche Amsterdam und fast vergessen wir, den Moment zu genießen, so sehr lassen uns die Wolkenkratzer von zukünftigen Reisen und Einfahrten nach New York, Shanghai oder Sydney träumen. Wir sind beinahe überrascht, im Hafen von Rotterdam kein Begrüßungskomitee anzutreffen, so episch und einmalig kommt uns unsere Reise vor, als wir nach zehn Tagen mit Rocinante im Hafen Rotterdams einlaufen. Eine Strecke, die mit dem Zug knappe sechs Stunden gedauert hätte, aber Reisen mit dem Schiff zeigen immer wieder: Der Weg ist tatsächlich das Ziel.
Das Ijsselmeer ist ein künstlich eingedeichter Süßwassersee, der größte der Niederlande. An seiner tiefsten Stelle ist er gerade einmal 5,50 Meter tief. Das Markermeer ist vom Ijsselmeer durch einen Deich getrennt und noch flacher, auf beiden Seen muss man vorsichtig navigieren, um nicht aufzusetzen. Wir verbringen eine Nacht in Makkum, sind aber zu erschöpft, um uns den Ort anzusehen und wegen der Öffnungszeiten der Markermeer-Schleuse müssen wir am nächsten Morgen früh weiter. Dafür haben wir in Enkuihzen genug Zeit für den ersten touristischen Stopp unserer Fahrt. Das pittoreske, niederländische Dorf liegt noch halb im Winterschlaf und wir haben das Städtchen und seine Restaurants für uns allein. Wir sind froh, die Nordsee-Etappe hinter uns gebracht zu haben und machen eine gut gelaunte Sightseeing-Runde.
Nun geht es rein in die Kanäle bis nach Amsterdam. Wir fahren beide das erste Mal mit einem Boot in eine Großstadt ein und spätesten, als wir am Bahnhof Amsterdam Centraal vorbeifahren, haben wir ein breites Grinsen im Gesicht. Bei strahlendem Sonnenschein und mittlerweile immerhin zehn Grad machen wir im Amsterdamer Sixhaven fest. Die Fähre rüber zur Innenstadt ist keine fünf Minuten von unserem kleinen, liebevollen Anleger entfernt und so können wir einen ganz wunderbaren Nachmittag lang durch die Amsterdamer Altstadt schlendern und natürlich, im Seefahrer*innen-Style, auf die nächste vollendete Etappe anstoßen.

Nachtfahrt durch Amsterdam
Vor uns liegt eine weitere Nachtfahrt, aber Langeweile macht uns diesmal keine Sorgen. Zum Einbruch der Nacht finden wir uns und zwei weitere Segelboote vor der Eisenbahnbrücke am Houthaven ein, dem Startpunkt der Staande Maast-Fahrt durch die niederländische Hauptstadt. Auf dem Wasser werden viele Dinge noch sehr altmodisch organisiert und so sitzen wir auf unseren Schiffen, mit den Funkgeräten auf Kanal 69, und warten auf das Signal, wann die Eisenbahnbrücke für uns öffnen wird. Das angegebene Zeitfenster: zwischen 23 Uhr und drei Uhr morgens. Gegen zwei Uhr reißt uns ein Rauschen aus dem leichten Schlaf: Die Brücke wird in zehn Minuten geöffnet, Motor an, es geht los!
Die Brücken werden manuell geöffnet, das bedeutet, dass mehrere Brückenwärter*innen auf Fahrrädern neben uns den Kanal entlangfahren und eine Brücke nach der anderen für uns hochgeklappt wird. Trams, Busse, Autos, Fahrradfahrer*innen und schaulustige Passant*innen – sie alle müssen auf uns warten. Die Fahrt durch das nächtliche Amsterdam ist unglaublich. Berühmte Gebäude leuchten still in der Entfernung, wir passieren eine Windmühle sowie eine hell erleuchtete Moschee. Die Autobahnbrücke vor dem Nieuwe Meer öffnet sich in apokalyptischer Atmosphäre kurz vor Sonnenaufgang. Jetzt nur noch die Brücke bei Schiphol und unsere Fahrt durch flaches Land kann weitergehen.
Gemächliche Fahrt nach Gouda
Schweigend tuckern wir durch die langsam erwachende Landschaft, Wildgänse begleiten unsere Fahrt, Schwäne stochern am Ufer nach ihrem Frühstück und verblüffte Kühe sehen uns mit großen Augen nach. Hübsche, aufgeräumte Dörfer und kleine Städte ziehen an uns vorbei, bis wir am Nachmittag Gouda erreichen. In Gouda ist Markttag und das wollen wir uns natürlich nicht entgehen lassen. In unseren Segelklamotten leicht deplatziert stehen wir zwischen den gut gelaunten Goudaner*innen auf dem Markt, essen Waffeln und – du ahnst es – stoßen auch auf diese Etappe an.
Die Zieleinfahrt in Rotterdam
Die Einfahrt nach Rotterdam ist ein besonderer Moment. Mit ihrer beeindruckenden Skyline wirkt Rotterdam um einiges urbaner als das gemütliche Amsterdam und fast vergessen wir, den Moment zu genießen, so sehr lassen uns die Wolkenkratzer von zukünftigen Reisen und Einfahrten nach New York, Shanghai oder Sydney träumen. Wir sind beinahe überrascht, im Hafen von Rotterdam kein Begrüßungskomitee anzutreffen, so episch und einmalig kommt uns unsere Reise vor, als wir nach zehn Tagen mit Rocinante im Hafen Rotterdams einlaufen. Eine Strecke, die mit dem Zug knappe sechs Stunden gedauert hätte, aber Reisen mit dem Schiff zeigen immer wieder: Der Weg ist tatsächlich das Ziel.
